Arisierung in Gießen – Rede zum 9. November

Rede des AK 069 für den Mahngang des 9. November

am 9. November 2016 in Gießen

Der 9. November 1938 bildete den vorläufigen Höhepunkt der antisemitischen Kampagne des Nationalsozialistischen Deutschlands. An diesem Ereignis zeigt sich das Vorgehen der Deutschen. Offener Terror auf den Straßen, gefolgt von der unter bürokratischem Mantel vollzogenen so genannten „Arisierung“ des Deutschen Reiches.

In der Nacht des 9. November kam es vielerorts zu antisemitischen Plünderungen jüdischer Geschäfte und Privathäuser. In Folge dessen begann der Raub. Dieser war von langer Hand vorbereitet, und reiht sich in den organisierten Antisemitismus des Nationalsozialismus ein. Im April 1938 erließ Göring ein Gesetz, das Juden vorschrieb ihr Vermögen über 5.000 Reichsmark den Behörden zu melden. Die Passverordnung sollte sie als unerwünschte Bürgerinnen und Bürger missbilligen. Bereits im August wurden die Synagogen von München und Nürnberg zerstört.

Das Attentat von Grynszpan – welches eine Reaktion auf die erste Deportation von Jüdinnen und Juden war – bot den Nationalsozialisten die Gelegenheit den „Zorn des Volkes“, wie es Goebbels nannte, sprechen zu lassen. Am Abend des 9. November brannte in dem gesamten Deutschen Reich jüdisches Eigentum. Was danach noch übrig war, wurde arisiert. Nach geltendem Recht wurde Hab und Gut an das Deutsche Reich oder arisch kategorisierte Geschäftsleute zu Spottpreisen verkauft. In Gießen waren rund 180 Liegenschaften von diesem Vorgang betroffen. Hinzu kommen Fälle in umliegenden Gemeinden. Zum Beispiel 36 „Arisierungen“ in Wieseck – damals noch kein Gießener Stadtteil.

Die Thematisierung und Aufarbeitung der umfangreichen Aneignung jüdischen Eigentums in Gießen wird – will man es wohlwollend ausdrücken – Stiefmütterlich behandelt. Drückt man es in den Worten Professor Bruno Reimanns aus, so hüllt sich die Gießener Bürgerschaft bis heute über den Hergang der Ereignisse in einem Mantel der Verschwiegenheit und hält wie Pech und Schwefel zusammen. Noch immer wird Profit aus den Nazi-Enteignungen geschlagen, diese Tatsache mit einem Tabu unterworfen und geleugnet.

Ein Beispiel ist die Bahnhofstraße 65. Rudolf Sommerlad (sen.) erwarb das Grundstück am 27. März 1939. Für die 504 m² große Liegenschaft zahlte er dem jüdischen Eigentümer Leopold Mayer 45.000 Reichsmark. Diese Summe würde heute in etwa 10.000 Euro entsprechen. Dieses Anwesen bildete die Grundlage des bis heute bestehenden Unternehmens „Möbelstadt Sommerlad“1.

Heute wird das Unternehmen von dem Enkel des NS-Profiteurs geführt.

Geht man auf die Internetseite des Unternehmens, so findet sich in der Rubrik „Historie“ für die 1930er Jahre folgender Eintrag: „Die junge Firma expandierte mit dem Kauf zweier Anwesen in der Bahnhofstraße und im Flutgraben. Dort wurde der Grundstein für eine über Jahrzehnte dauernde Tradition in Gießen gelegt.“ Kein Wort von den ehemaligen Eigentümern dieser Gebäude.

Zum 80-Jährigen Firmenjubiläum von Möbelstadt Sommerlad thematisierte Reinhard Hamel in einem Leserbrief an die Gießener Allgemeine Zeitung das Verschweigen der eigenen Verstricktheit in die „Arisierung“. Er forderte von dem Unternehmen Klarheit über die Umstände des Erwerbes dieses Grundstückes zu schaffen . Er forderte die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Der Brief wurde einer Veröffentlichung entzogen. Guido Tamme – damaliger Redaktionschef der Zeitung – kanzelte die Forderung von Hamel ab. Er meinte, dass die Anschuldigungen haltlos seien. Hierbei beruft er sich auf die Aussage Frank Sommerlads, also des Enkels des Firmengründers. Dieser behauptete sein Opa habe das Grundstück regulär im Jahr 1936 erworben. Der Vermerk in den Akten aus dem Jahr 1939 sei darauf zurückzuführen, dass Sommerlad das Grundstück zweimal bezahlen musste. Der Eindruck wird erweckt, dass der Großvater eigentlich selbst ein Opfer der Nazis gewesen sei, und man sich deshalb nicht mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen habe. Solches Verhalten mit der eigenen Familiengeschichte ist nur allzu typisch für den Umgang mit den Taten der eigenen Großeltern. Somit bleibt für uns der Verdacht bestehen, dass es sich bei dem Grundstück aus der Bahnhofstraße 65 um ein unter den Zwängen des nationalsozialistischen Terrors von Leopold Mayer verkauftes Eigentum handelt.

Bis heute sind die Vorgänge nicht von einer unabhängigen Kommission geklärt.

Die Stadt Gießen tut sich immer noch schwer mit einer kritischen Aufarbeitung der Stadtgeschichte. Wir fordern daher, dass diese und andere Geschichten der so genannten „Arisierung“ offen thematisiert und aufgearbeitet werden.